Mitgefühl und Mitleid - ein feiner Unterschied

Mein Gegenüber wirkt auf mich unausgeschlafen und unkonzentriert. Sein Blick flattert im Raum herum. Sein Gesicht ist eingefallen und leer. Er leidet unter Schlafstörungen. Welche Bilder erzeugt das in meinem Kopf? Welche Position werde ich dazu einnehmen? Die des Mitfühlenden oder die des Mitleidenden? 

 

Sie kennen ähnliche Situationen, in denen Sie beginnen, die eigenen Bilder mit dem Leid Ihres Gegenübers zu verknüpfen? Wenn ja, sind Sie dabei, Ihre Objektivität zu verlieren. Die klare Trennung zwischen sich und dem Betroffenen wird verwischt. 

Nicht nur für Menschen in heilenden Berufen kann das eine Herausforderung sein, auch im persönlichen Umfeld kann es vorkommen, dass es jemandem schlecht geht. Unser Kind hat sich das Knie aufgeschlagen. Eine Freundin wurde von ihrem Mann betrogen. Wie können wir mitfühlen, ohne mitzuleiden, wie reagieren, ohne belehrend und kaltherzig zu sein? So dass es unterstützend für die betreffende Person ist?

Gegenüber einer leidenden Person können wir uns diesen wichtigen Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl immer wieder bewusst machen. 

 

Beim Mitleiden verlässt der Zuhörer seine Position des Zuhörens und Mitfühlens und begibt sich quasi mit beiden Beinen in die Position des Leids seines Gegenübers. Durch die Bereitschaft, sich auf die persönliche und emotionale Ebene des Betroffenen zu begeben, erfährt der Mitleidende ähnliches Leid wie sein Gesprächspartner. Durch den empathischen Blick seiner emotionalen Brille taucht der Mitleidenden in eigene leidvolle Erlebnisse und Erinnerungen.

 

 

Zudem verstrickt sich der Mitleidende in das Leid des anderen. Er versucht, sein Gegenüber vor den Folgen, die das Leid erzeugt, zu beschützen, ihn aufzufangen und verbündet sich mit seinem Gegenüber. Möglicherweise übernimmt der Mitleidende einen Teil der Verantwortung, bekannt auch als Helfersyndrom. Es besteht die Möglichkeit, mich (kurzfristig) besser zu fühlen, indem ich mich auf das Leid anderer fokussiere.

 

Im Gegensatz zum Mitleidenden bewahrt der Mitfühlende den Abstand, um nicht in diese Falle der Subjektivität seiner Emotionen zu geraten. Ein innerliches „Reset" sorgt für den angemessenen Abstand zum Leid des anderen. Der Mitfühlende hört zu und stellt Fragen. Er begleitet sein Gegenüber und ändert die Blickrichtung des Leidenden weg von seinem Leid und den Folgen hin zu seinen Ursachen. Der Weg zurück zum Ursprung bedeutet, den Weg zur inneren Heilung einzuschlagen. Davon profitieren beide. Im Gegensatz zum Mitleiden.

 

Meine Bereitschaft, den Heilungsweg eines Leidenden zu begleiten, bedarf einer täglichen Reinigung meiner Gedanken, Emotionen und deren Selektion. Es bedarf der Frage nach Zuständigkeit und einer klaren Antwort darauf. Wie aktiv ich an dem Geschehen der Heilung eines anderen beteiligt sein möchte, hängt stark von meiner inneren Stabilität ab. Bei räumlicher Nähe hilft es mir, den Abstand für kurze Zeit zu vergrößern. Habe ich diese Punkte für mich geklärt und bin bereit, begebe ich mich in das Mitfühlen und Empfangen. 

 

Gabriele Oppermann 

 

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Bild zur Meldung: Lina Trochez auf Unsplash