Alles fließt. Erkenntnisse einer besonderen Sommernacht

Binz (Rügen), 22. Juni: Wer einmal in nördlichen Breiten die Sommersonnwendzeit erlebt und bis nachts um etwa 1.00 Uhr wach geblieben ist, der weiß, wovon die Rede ist: Der magische Übergang zwischen dem vergangenen und dem neuen Tag. In gemäßigten Breiten kennen und erleben wir diesen Wechsel ganz profan als “die Nacht”, die Sonne geht unter und es wird finster, der Tag ist zu Ende. Am nächsten Morgen geht die Sonne auf und der neue Tag ist da.

 

Im Norden ist das anders. Da ist der Übergang von einem zu andern Tag ein Moment, nicht in Zeit zu messen, nur eine veränderte Wahrnehmung: dass die Abenddämmerung nun zur Morgendämmerung geworden ist. Mehr ein Kontinuum, wie der Moment zwischen Einatmen und Ausatmen.

 

Man muss übrigens gar nicht so weit in den Norden, etwa in die Nähe des Polarkreises reisen, um diese Erfahrung zu machen. Mit etwas Wetterglück lässt sich das Schauspiel bereits an Rügens Nordküste erleben. 

 

Ich lerne: Die Bewegung der Erde kennt keine Uhr- oder Tageszeiten, sie ist in immerwährendem Fluss. Diese Erfahrung des Kontinuums, des Fließens der Zeit kann unseren Verstand für die Wirklichkeit des Lebens öffnen. Dieser Verstand, der es gewohnt ist, die Dinge zu unterteilen und zu definieren, wie die Wissenschaft - “Scientia”, was ursprünglich bedeutet: „eine Sache von einer anderen trennen, unterscheiden“. Ein Erfolgsrezept der letzten 2000 Jahre, das Rationale, das uns den technologischen Fortschritt gebracht hat, nun aber sehr hart an seine Grenzen stößt - und dringend ergänzt werden muss durch eine ganzheitlich-systemische Sicht.

 

Ganzheitlich bedeutet: Alles lebt in Beziehung, nichts existiert losgelöst von seiner Umgebung und von der lebendigen Natur. Wir leben immer in Gemeinschaft mit allem Lebendigen.

Panta rhei - alles fließt: So wie Licht und Dunkelheit sich abwechseln und damit das Leben auf der Erde erst ermöglichen.

 

Tod und Vergänglichkeit wird in unserer Kultur oft mit Dunkelheit assoziiert und mit Ablehnung begegnet. Wir sind so geprägt, wenn etwas zu Ende geht oder jemand stirbt, als käme danach nichts mehr - finis. Leben und Tod, Werden und Vergehen verstehen wir wie Tag und Nacht - als Gegensätze. Wir hängen am Leben. Die meisten halten sich sogar auf eine gewisse Art für unsterblich und verdrängen den eigenen Tod. Doch der gehört dazu, ist Teil EINER Bewegung. 

 

Nur scheinbar steht's Momente still.

Das Ewige regt sich fort in allen:

Denn alles muß in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.

(aus Goethe, “Eins und Alles”)


Ohne den fließenden Wechsel von Tag und Nacht wäre die eine Erdhälfte verbrannt, die andere in Eis erstarrt. Werden und Vergehen IST der Fluss der Lebendigkeit.
Wenn wir also bemerken, dass etwas vergeht, wie der Tag, der Urlaub, auch wenn er noch so schön war oder auch die eigene Jugend und Vitalität, dann dürfen wir - ja, darüber trauern - UND uns gleichzeitig darüber bewusst werden, dass dieses Sterben Teil der Erneuerung des Ganzen ist. Raum für etwas Neues entsteht. So wie man nicht immer nur einatmen kann. So wie ein Tag auf den andern folgt. In Binz, Potsdam und anderswo.

 

Andreas Fiedler

 

 

Bild zur Meldung: © Andreas Fiedler