Sehnsucht – der Sog aus der Zukunft

In der Natur drängt bald wieder alles zur Entfaltung. Sobald das Licht wiederkommt, ist der Frühling nicht mehr aufzuhalten. Und diese Jahreszeit enthält ein großes Versprechen, nämlich dass das Leben doch Fülle sei, Lebendigkeit und Kreativität. Leider halten wir oft die Entfaltungskraft zurück und viele unserer Talente liegen brach.

 

Was die Musik betrifft, fühlte ich mich über viele Jahre in einer Art Winterschlaf. Ich sah kein Licht im Dunkeln und konnte mein kreatives Potenzial nicht anzapfen. Weil ich über einen längeren Zeitraum keine Menschen fand für gemeinschaftliches Musizieren, verkümmerte mein Mut, mich weiter darin auszuprobieren. Auch die Sehnsucht nach der vibrierenden Lebendigkeit und Gestaltungsfreude, nach den Begegnungen ohne Worte und der Erweiterung nach innen und außen schwand mit den Jahren immer mehr.

 

Bis eine Band genau meine Talente für gemeinschaftliches Musizieren suchte! Durch Wertschätzung bestärkt, ein erstes Zusammenspiel beflügelt und durch die Musik entflammt, stürzte ich mich hinein ins Üben, hörte Aufnahmen und entdeckte meine tiefe Sehnsucht wieder wie einen Sog, der mich leise zieht und halblaut ruft, die Sehnsucht nach einem Frühling der Musik, Kreativität und Entfaltung. 
 

Sehnsucht als Ruf des Zukünftigen

 

Vorher hatte ich oft eher Druck verspürt. Druck will uns ja anschieben und ins Handeln bringen. Druck erzeugt Widerstand und Anstrengung, verhindert Kreativität und fördert Stillstand. Wir spüren ihn meist von hinten in Nacken und Rücken. Nur wenn wir uns Schritt für Schritt von diesem Druck befreien, kann der Blick frei werden und dem folgen, was leise von vorne nach uns ruft. Die Kräfte, die sich entfalten wollen, folgen mühelos – um beim Bild der Natur zu bleiben - dem „Licht“, sie folgen dem Ruf des Zukünftigen, dem Sog aus der Zukunft.


 

Die schöpferische Kraft der Sehnsucht kann Künstler:innen zu Arbeiten inspirieren, Visionen für die Erde erdenken, neue Erfindungen kreieren, Menschen zur Liebe  bringen, sie kann zutiefst inspirieren. Und sie kann uns zum „Göttlichen“, unserem wahren Selbst ziehen.

 

Sie kann uns aber auch in die Irre führen: Immer irgendwo anders hin, wo wir nicht wirklich anwesend sind, wo wir nicht fühlen müssen. Dann betäuben wir uns und sind in einer Sucht gefangen. Nicht nur Drogen, fast alles kann uns dazu dienen, unser tieferes Sehnen, Unvollständigkeit, leere oder schmerzhafte Stellen nicht zu fühlen. Wenn schwere Steine im Fluss liegen, uns das Fließen noch nicht gelingt, holen wir uns doch einfach Unterstützung - von einem Freund oder einer Profi.

 

Immer wieder machen wir schließlich die Erfahrung: Wenn wir uns entspannen, können wir den inneren Wachstumsimpulsen antworten, den Sog aus der Zukunft spüren und dem Dichter Rumi lauschen:

„Lass dich ziehen von dem leisen Sog dessen, was du wirklich liebst. Er wird dich nicht in die Irre führen.“

 

 

Lydia Poppe

 

 

 

 

 

 

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Bild zur Meldung: © Petr Sidorov auf Unsplash