Der Baum am Ende der Mauer

Im Nordwesten Indiens – genauer gesagt in der Stadt Faridabad im Bundesstaat Haryana -  befand sich der Garten meiner Tante. Hohe Mauern umgaben das Grundstück. Das Gras war verdorrt und nur einen Baum, der die Mauer überragte, schien das nicht weiter zu stören.

 

Neugierig, wie ich war, beschloss ich eines schönen Tages herauszufinden, was sich auf der anderen Seite der Mauer befand, und kletterte auf den Baum. Das Bild, das sich mir bot, prägte sich tief in mein Gedächtnis ein. Unter mir schien eine andere Welt zu existieren. Voll Elend und Armut. 

 

Wie kann man bei dem Übermaß an Ungleichheit dem Wohle der Gemeinschaft dienlich sein? Eine Antwort fand ich auf dem Grundstück meiner Familie mit den hohen Mauern.

 

Meine Tante betätigte sich als Lehrerin, während mein Onkel als angesehener Geschäftsmann die klassische Rolle des Ernährers innehatte. In ihrem Haus gab es Bedienstete, die sich um alles kümmerten: Garten, Wäsche, Einkauf und Küche. Das eigentlich Besondere war, dass sie diesen Menschen - aus einer Familie von Analphabeten aus der ärmsten Region Nepals stammend - eine separate Wohnung auf der Dachterrasse zur Verfügung stellten und den älteren Familienmitgliedern das Lesen und Schreiben beibrachten.

 

Die Kinder beider Familien wurden in die Schule gefahren von einem Vater, der zum Personal gehörte. Er hatte an der Seite meiner Tante Lesen und Schreiben gelernt, damit er einen Führerschein machen konnte, um später als Fahrer von der Firma eingestellt werden zu können. 

 

Dem Wohle der Gemeinschaft dienlich sein 

 

Als sein Sohn alt genug war, um selbst einen Führerschein zu machen und Fahrer zu werden, besorgte mein Onkel dem Vater eine feste Anstellung in der Firma. Mit seinem eigenen Geld konnte er sich dann ein eigenes Haus bauen.

 

Diese Geschichte wiederholte sich in den folgenden Generationen, bis mein Onkel in Rente ging und der Sohn seinen Vater als Fahrer nicht mehr abzulösen brauchte, sondern den Rest seines Lebens im Haus meiner Tante und meines Onkels leben konnte, sein eigenes Geld verdiente und damit die Freiheit gehabt hätte sich und seiner Familie ein eigenes Haus zu bauen. Doch er blieb und umsorgte die beiden älter werdenden Menschen.

 

Als mein Onkel nicht mehr in der Lage war, seine Bankgeschäfte selbst zu regeln und mit den Jahren immer gebrechlicher wurde, übernahm der Sohn, der nicht Chauffeur werden sollte, die Bankgeschäfte meines Onkels, während seine Frau sich rührend um das Essen und die Medikamente der älteren Herrschaften kümmerte.

 

Mein Onkel starb in dem Haus mit den hohen Mauern. Das Haus gehört nun dem Sohn, der nicht Chauffeur werden sollte. Allerdings machte dieser dann doch noch einen Führerschein, um meinen Onkel vor seinem Ableben im Krankenhaus besuchen zu können.

 

Gabriele Oppermann 

 

 

Bild zur Meldung: Ashwini Chaudhary (Monty) auf Unsplash