Selbst ist das Wohl?

„Boah, was für ein Tag!“ Genervt und erschöpft lässt Viktoria ihren Rucksack im Flur fallen und verschwindet erst einmal schnurstracks im Badezimmer. Sven kennt das schon. Wenn Viktoria wieder im Gemeindezentrum gearbeitet hat und es dort an dem Tag Veranstaltungen gab, ist sie hinterher komplett fix und fertig. Sie wird eine Weile im Bad bleiben, vielleicht auch gleich ein Bad nehmen. Sven geht in die Küche, setzt Teewasser auf und nimmt schonmal das Essen zum Aufwärmen aus dem Kühlschrank.

 

Sven ist ein eher ruhiger Geselle, Viktoria die Aufgeweckte und Neugierige. Sie braucht andere Menschen und sie braucht Action. Sonst wird ihr schnell langweilig. Deswegen hat sie sich auch das Ehrenamt im Gemeindezentrum ausgesucht. Sie kennt dort einige Besucher von ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin. Aber das stört sie nicht, im Gegenteil. Sie ist einfach gerne mit Menschen zusammen.

 

Nur manchmal ist dann doch alles einfach zu viel. So wie heute. Sven hat ihr schon so oft vorgeschlagen, sich nicht immer so viel und intensiv zu engagieren, aber Viktoria sagt, das könne sie nicht reduzieren. Ihr soziales Gefühl ist wie ein Sog. Mit jeder leidenden Seele leidet sie mit und auf jede hilfreiche Idee, Menschen im gemeinsamen Miteinander zu unterstützen, springt sie in enthusiastischer Freude wie beim ersten Mal auf. 

 

 

Im Gemeindezentrum möchten sie Viktoria auch nicht missen. Sie behält den Überblick, berührt die Menschen und bringt mit ihrer Kreativität so viel Neues und Schwung in das Ganze. Ihre Energie sei besonders, sagen die Kolleginnen. Viktoria weiß das und daher möchte sie auch überhaupt nicht weniger im Zentrum sein. Ihr Verantwortungsgefühl für ihre Mitmenschen, für Kranke oder sozial Schwache war schon immer sehr ausgeprägt. 

 

Aber heute, spürt sie, so in der Wanne liegend, ist irgendwas anders. Es fühlt sich an, als wäre etwas in ihr gerissen. Sie fühlt sich traurig und schließt die Augen, atmet mehrmals tief ein und aus, um dem Gefühl des Risses, oder einer Zerrissenheit in ihr nachzuspüren. Erschöpfung steigt auf. Will sie sie zulassen? Nein, nicht wirklich. Aber sie weiß auch genug über Selbstfürsorge, als dass sie dem störrischen Gefühl nachgeben würde. Vielleicht hat Sven doch recht und sie sollte mehr auf sich selbst achten, trotz aller Empathie, trotz allem notwendigen Engagement für andere Menschen. Der Gedanke macht ihr Angst. Angst, nicht gut genug zu sein, den anderen nichts mehr geben zu können, andere hilflos ihrem Schicksal zu überlassen. Aber wieviel Gemeinwohl, wieviel Wohl kann sie anderen schenken, wenn sie sich selbst nicht mindestens genauso respektiert und liebevoll behandelt? Ein Funken Wandel breitet sich in ihr aus und sie spürt, dass eine neue Zeit, eine neue Aus-Richtung beginnen wird.

 

Cordula Roemer, Expertin für Hochsensibilität & Hochbegabung

 

Bild zur Meldung: Timothy Dykes auf Unsplash