Aufbrechen um anzukommen
Ich stehe am Fenster. Mein Koffer neben mir. Mein Blick schweift durch das trübe Nichts eines verregneten Tages, blicklos, haltlos, kraftlos. Das Alte ist unwiederbringlich vorbei. Du hast gesagt, es ginge so nicht mehr weiter. Ich habe gespürt, dass es so nicht mehr weitergeht. In meiner scheuen, sensiblen Art habe ich den Konflikt nicht angesprochen, hoffend, er würde sich durch das Schweigen und die verstreichende Zeit besänftigen. Zeit heilt alle Wunden, heißt es doch. Diese nicht. Jetzt noch nicht.
Ich nehme mir eine Auszeit. Tapetenwechsel, in der Hoffnung, dass die Tapeten und die Zeit ihr Wunderwerk vollbringen. Ich liebe den Süden. Also habe ich einen Malkurs im toskanischen Frühling gebucht. Schon lange fristet mein Malen ein Schattendasein. Die Beziehung war mir wichtiger. Die Zeit mit dir war mir wichtiger. Ich war mir nicht so wichtig. Mein Coach meint, hochsensiblen Menschen passiere dies leicht in Partnerschaften. Der oder die andere sei wichtiger, als man selbst und - schwupps, ehe man sich versieht, ist die Krise da. Zu wenig Grenzen, zu wenig gelebte Individualität, zu viel Anpassung. Ich fühlte mich ertappt. Mist, schon wieder was falsch gemacht, schimpft mein innerer Kritiker. Den solle ich auch gleich mit in Urlaub schicken, meint mein Coach, allerdings in eine andere Richtung als die, in die ich reise. Ich habe ein Bild gemalt, in dem mein Kritiker in Kanada am Lagerfeuer sitzt - schön weit weg.
Malzeit!
Die Zugtür öffnet sich und warme, weiche, nach Kräutern duftende Luft umhüllt mich. Mein Taxi wartet auf mich und bringt mich zu einem kleinen Gutshof, außen fast unscheinbar, innen ein Juwel an Ästhetik und Behaglichkeit. Überall, versteckt oder großflächig an den Wänden gestalten Kunstwerke das Ambiente. Ich werde herzlich von den Kursleitern willkommen geheißen und in mein Reich für die nächsten zwei Wochen geführt. Ich habe mir den Luxus eines Einzelzimmers gegönnt. Dort spüre ich, wie meine Seele tief durch- und aufatmet: Schönheit und Stil besänftigen meine brüchig gewordene Seele und mir wird mit einem Mal klar, wie sehr ich diese Dinge in meinem Leben vermisst habe. Und wie sehr ich sie für mein Wohlbefinden brauche.
Der Kurs ist ein wahrgewordener Traum von Entspannung, Wohlempfinden und dem Eintauchen in meine innere, viel zu lange vergessene Welt. Die gemeinsamen Spaziergänge, das Dösen in der warmen Frühlingssonne und die liebevoll geleiteten gemeinsamen Malzeiten führen mich sanft immer mehr zu mir zurück. Jeden Tag entdecke ich meine Freude am Malen neu, entdecke meine Intuition, meine innere Kraft wieder. Ich ahne, was ich mir all die Jahre selbst vorenthalten habe. Es musste wohl erst etwas abbrechen, damit ich aufbrechen konnte - zu mir.
Expertin für Hochsensibilität & Hochbegabung
Bild zur Meldung: Uwe Baumann auf Pixabay