Achtsam sein, stark sein
In seinem Buch „Waking the Tiger“ erzählt der Psychotraumatologe Peter Levine eine Geschichte von 26 amerikanischen Kindern, die entführt und in einer Höhle gefangen gehalten wurden. Als das Dach einzustürzen begann, riskierten sie, lebendig begraben zu werden. Ein Junge namens Bob Barkley begann, einen Tunnel nach draußen zu graben, holte andere zur Hilfe und animierte die Kinder, die in einen Schockzustand verfallen waren, sich in Sicherheit zu bringen. In den folgenden Jahren litten die meisten Kinder unter langfristigen psychologischen Auswirkungen. Bob war jedoch einer derjenigen, die am wenigsten betroffen waren.
Wir alle erleben kleinere oder auch größere Katastrophen. Die meisten von uns bleiben von diesen traumatischen Ereignissen gezeichnet, und sei es nur unterschwellig. Man geht davon aus, dass Menschen, die fortgesetzt unter den negativen Auswirkungen vergangener Ereignisse leiden, so leben, als wären sie immer noch in dieser überwältigenden Situation gefangen.
Die Fähigkeit, solche Krisen ohne großen Schaden zu überstehen, wird stark von unserer Resilienz beeinflusst, d.h. von unserer Fähigkeit, eine Situation zu meistern und nicht von ihr besiegt zu werden. Mit Resilienz sind wir ruhiger, handlungsfähig, beweglicher, wir kämpfen und wir können gewinnen.
All diese Fähigkeiten hängen von unserer Präsenz ab. Was ist Präsenz? Präsenz ist, wenn man seinen Zustand, seine Bedürfnisse und seine Kräfte spüren kann. Heutzutage praktizieren viele Menschen Achtsamkeitsübungen. Achtsamkeit fördert die Präsenz, die körperliche und emotionale Selbstregulierung, die Anpassung und die Belastbarkeit.
Warum funktioniert Achtsamkeit? Ganz einfach. Achtsam zu sein bedeutet, eine gute Wahrnehmung zu haben, sich selbst zu spüren und vor allem Sinnes-Informationen zu sammeln. Nur wenn wir über unsere Sinne genaue Informationen sammeln können, sind wir in der Lage, gute Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Ohne sensorische Informationen sind wir nicht in der Lage, die Situation klar zu sehen und Entscheidungen zu treffen.
Resilienz wird nicht an einem Tag gewonnen. Es braucht Zeit. Achtsamkeit stärkt die Resilienz, indem sie das Gehirn verändert, unter anderem die Amygdala, den präfrontalen Cortex und den Hippocampus. Dadurch verändern sich die Reaktion des Gehirns auf Stresshormone, die emotionale Regulation, die Entscheidungsfindung, das klare Denken und die kognitive Flexibilität.
Bei einer Katastrophe kann starres, unflexibles Denken zu Hoffnungslosigkeit führen. Achtsamkeit fördert aktiveres Handeln und hilft der Person auch, die Erfahrung anders zu bewerten. Anstatt ein Ereignis als unüberwindbare Barriere zu betrachten, ermöglicht Achtsamkeit, Herausforderungen als Hindernisse zu sehen, die es zu überwinden gilt, und als Chancen für positive Veränderungen.
Was waren Bobs Qualitäten? Praktizierte er Achtsamkeit, lag es an seiner familiären Situation oder hatte er einfach Glück an dem Tag? Wir wissen es nicht genau. Was wir wissen, ist, dass wir durch die Ausübung von Achtsamkeitsübungen, wie z.B. MBSR, Meditation oder die Feldenkrais-Methode, mehr Kontrolle über unser körperliches und geistiges Wohlbefinden erlangen und unsere Resilienz stärken können.
Bild zur Meldung: Laurentiu Iordache auf Unsplash