Die erlernte Unsichtbarkeit
Deutschland, Niederlande, Belgien - mein Großvater musste vor den Nazis fliehen. Fort aus der Heimat, weg von Familie, den Liebsten und seinen Kindern. Jahre nach dem Krieg landete er schlussendlich in der Schweiz. Es war gut, dass er geflohen ist, denn sonst hätte ich, sein Enkelkind, ihn nie kennengelernt und er nicht einen wichtigen Schreibkeim in mir säen können. Auf der Flucht war er unsichtbar. Nach der Flucht war er schwer krank.
Meine Tante lebte im „Osten“. Geteiltes Land, geteiltes Leid, wenn auch nicht immer von beiden Seiten so empfunden. „Drüben“ mussten wir uns in Acht nehmen. Kein West-Radio, kein West-Fernsehen, schön anpassen, möglichst unsichtbar sein. Als Kind verstand ich den Quatsch nicht, nahm ihn aber als gegeben hin. In Anpassung war ich sowieso gut geübt. Gewalttätige Eltern sorgen für unsichtbare Kinder, denn wer unsichtbar ist, kommt halbwegs durch.
Der Gatte meiner Tante war eine Berühmtheit, damals im Osten. Im Rampenlicht, everybody’s Darling, Showman. Volle Sichtbarkeit fürs Volk. Zuhause hatten wir den Steg am See mit einer Stoffplane verdeckt. Privat galt eine andere Sichtbarkeit.
Krieg, politischer Dogmatismus, Verfolgung - wir können die Jahrhunderte zurückgehen und treffen immer wieder auf die gleichen Strukturen, die gleichen Mechanismen, die viele Menschen zur Unsichtbarkeit zwangen.
Schon öfter fragte ich mich: Welche Menschen mussten sich eigentlich all die Jahrhunderte immer wieder verstecken? Heiler, Künstler, kritisch Denkende und Frauen.
Interessant, wenn wir uns vor Augen halten, dass gerade feinfühlige Menschen, also Hochsensible, Hochbegabte, kreativ oder medial Begabte u.v.a. genau zu dieser Spezies gehören. Gibt es also eine Geschichte der Unsichtbarkeit bei Feinfühligen? Eine erlernte Unsichtbarkeit? Es ist eine Frage des Überlebens.
Und nun, endlich, ist die Zeit gekommen, in der all die Feinfühligen und Frauen beginnen, ihre Gaben aus den Tiefen der Unsichtbarkeit zu bergen. Und die Welt braucht diese Gaben. Händeringend! Und die Welt ruft: Werde sichtbar! Werde sichtbar! Äh, ja, gerne, aber wie??
Das laute Hamsterrad des modernen Marketing ist - mal wieder - für die Robusten unter uns gemacht. Das Höher, Schneller, Weiter, Mehr, Mehr und Mehr ist nichts für Feinfühlige. Sie verbrennen darin. Wir brauchen es sanft, klar, leise, akzentuiert. Wir trumpfen lieber mit Individualität und Qualität. Aber Sichtbarkeit? In aller Stille? Gegen all den Jahrmarkts-Trubel da draußen auf dem Parkett des neuen “Business”? Eine Zwickmühle tut sich auf: verbrennen oder in der Masse in Unsichtbarkeit versinken.
Mir kommen zwei Möglichkeiten, um dieser Zwickmühle zu entfleuchen. Erstens: kleine Netzwerke, Projekte oder Firmen gründen, in denen die Sichtbarkeit die Showmen unter uns übernehmen. Klein deswegen, weil sonst wieder von allem zu viel wird. Zweitens: Die inneren Verletzungen der erlernten Unsichtbarkeit verarbeiten. Die eigenen und die der vorangegangenen Generationen. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, aber lohnenswert und zutiefst heilsam für dich, für mich, für die Menschheit.
Bild zur Meldung: Anastacia Cooper from Pixabay