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Schwärmen für Gemeinschaft

Folgt man im Herbst dem unverwechselbaren Lärm der Vogelschwärme, dem lautstarken Tschilpen, Flöten, Schnattern, dem gurgelnden Flattern der sich zusammen findenden Stare, die sich in wogenden Wolken am Himmel zum gemeinsamen Abflug in den Süden sammeln, stellt sich die Frage  ein: Wie machen sie das bloß? Sie scheinen in Hundertschaften einen einzigen lebendigen, bewegten, so luftig-durchlässigen wie massig-kompakten Körper am Himmel zu bilden, der sich in rasanter Geschwindigkeit fortbewegt. Als ein pulsierender, wabernder Raumkörper tarieren seine einzelnen Elemente, Hunderte kleiner Vogelkörper, Nähe und Distanz innerhalb des Ganzen perfekt aus. Fasziniert beobachtet man ihr Flugtraining, mit dem sie sich ganz offenbar auf ihre bevorstehende Migration in wärmere Gefilde vorbereiten. Oder sind es spielerische Tänze, die sie zu ihrem eigenen Vergnügen aufführen? So hingegeben scheinen sie im Spiel der Kräfte, der eigenen Muskelkraft mit der Schwerkraft, so diszipliniert und frei zugleich, dass sie zu tanzen scheinen.
 
Im zeitgenössischen Tanz habe ich eine Improvisationstechnik erlernt und lieben gelernt, die sich auf jene Fertigkeit der Gruppe, der Vogel- wie der Fischschwärme, bezieht. Wenn wir diese Mimikry der Tierwelt betreiben, so um experimentell herauszufinden, was diese Fähigkeit ausmacht: zur exakt gleichen Zeit, absolut synchron, die gleiche Richtung einzuschlagen, und nicht nur das, sondern auch die individuellen Bewegungen des Körpers an der Spitze aufzunehmen und zeitgleich mitzuvollziehen, die Bewegung der anderen zu spüren, zu ahnen und wiederzugeben, während räumlich die gleichen Abstände zwischen den Körpern gewahrt bleiben. Wir nennen diese Technik, die wir als Spiel und zugleich als virtuose Disziplin betrachten, „flocking“, vom englischen Begriff „flock“ für Herde, Schar, Schwarm. Deutsch also „Schwärmen“ - und wie schön die Doppelbedeutung des Wortes!
 

 

Was diese gemeinschaftliche Fortbewegung auszeichnet, ist die in die Peripherie des eigenen Wahrnehmungsraums ausgeweitete Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Wenn dies gelingt, zählt nichts anderes mehr, als die Bewegung der Gruppe im Augenblick selbst zu erleben und zu verkörpern - mit dem Körpersinn, mit Haut und Haar, ohne Punkt und Komma, ohne Widerstand, ohne Zweifel oder Hinterfragen. Wenn dies gelingt, sind die kleinen Unterschiede der ausgeführten Bewegung zwar reizvoll, aber nicht wichtig. Schwierig für all die Individualisten und Selbstdarsteller in unserer Gesellschaft? 

 

Hier zählt einmal nur die Gemeinschaft, es zählt, wo sie als Kollektiv hin will, was ihr zuträglich ist und wie sie sich (friedlich) erhalten kann. Im Tierreich zählt vor allen Dingen, unbeschadet durch die Wellen, die Lüfte zu kommen, ohne den Fressfeinden ins Maul zu geraten. Oder dürfen wir den Tieren doch auch einen Sinn für den Genuss an der ästhetischen Gestaltung unterstellen? Vielleicht empfinden sie ja ebenso wie die Menschen Freude an dem Tanz der Gruppe, der gemeinsamen Bewegung? Dafür sind sie so geschickt, so aufeinander geeicht, dass sie nach außen eine verwirrend große Masse darstellen können, die wendig und unberechenbar nie am gleichen Platz bleibt, und so keinerlei geeignete Angriffsfläche bietet. Das virtuose Schwärmen dient den Tieren als Schutz, es bietet eine relative Sicherheit auf der freien Wildbahn. Es ist eine Überlebenskunst, eine friedliche Kampfkunst der Extraklasse. Dieses Können zu kultivieren bedeutet, für eine kurze Zeitdauer alle individuellen Fragen und Sorgen in den Hintergrund treten zu lassen, um sich einem größeren Ganzen anzuvertrauen. Und sich zugehörig zu fühlen.
Elias Canetti sah in der Masse jene Ur-Sehnsucht, die Trennung zwischen Menschen aufzuheben. Im Schwärmen jedoch – so wie wir es im Tanz erleben – bleibt das Bewusstsein wach: Einheit ohne Blindheit, Gemeinschaft ohne Dominanz.

 

Katja F.M. Wolf
Tanz- und Körperpsychotherapeutin

Heilpraktikerin für Shiatsu, CranioSacrale Therapie, Coaching in Lebensfragen, Traumaberatung

 

 

Bild zur Meldung: James Wainscoat auf Unsplash

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